Zwei sehr unterschiedliche Filme haben sich im letzten Jahr einer recht vergleichbaren Thematik angenommen und für Aufruhr im Festivalgeschehen gesorgt, jeder Film auf seine Art und Weise. Dass es nur einer davon zu großer Popularität und Award-Beachtung geschafft hat, scheint bezeichnend.
Vincent Gallo ist ein afghanischer Gefangener auf der Flucht in Jerzy Skolimowskis »Essential Killing«. Er befindet sich ständig in Bewegung, jeder Versuch zu rasten entpuppt sich als Todesfalle. Wir werden Zeuge einer sich nur langsam dahinschleppenden Tortur de Force, sinken ein in Bilder physischer Entgrenzung und jenseitiger Erfahrungen. Der Weg durch die lebensverneinende Einöde und Eiseskälte ist sein Ziel; sein Schicksal scheint besiegelt. Auf der anderen Seite des Canyons befindet sich James Franco, eingeklemmt in eine schmale Schlucht, für nicht weniger als »127 Hours«. Die zeitliche Vorgabe ist beruhigend und verunsichernd zugleich. Auf der Flucht aus der Stadt wirft Franco sich auf sein Mountainbike, rast und springt über Felsen und Abgründe. Das Bild teilt sich hektisch auf, unterlegt von bebender Musik, Jump-Cuts und Perspektivensprüngen. Er sucht den Adrenalinkick im Geschwindigkeitsrausch und endet ausgerechnet eingeklemmt auf kleinstem Raum.
Beide Filme, die in ihrem Zugang unterschiedlicher nicht sein könnten, haben eines gemeinsam: Einen einsamen und alleinigen Protagonisten in einer unvorhergesehenen Extremsituation, die zwischen Leben und Tod entscheidet. Und das sind die einzigen zwei Optionen. Jeder Film entscheidet für sich. Vincent Gallo geht den stillen Weg. Skolimowksi inszeniert seinen elementaren Überlebenskampf als das was er ist, nämlich eine schier unerträgliche Aneinanderreihung erschreckender Episoden, die im Zuschauer genau wie im Protagonisten den Wunsch nach einer endgültigen Erlösung schürt. Ein Ausweg ist auf halber Strecke längst nicht mehr in Sicht. Seine Filmsprache bleibt metaphorisch und überraschend. Die genreübliche Frage, wie weit würdest du gehen, wird von Skolimowksi ad absurdum geführt. Wohingegen Danny Boyle sich dafür wie es scheint von Anfang an eine schön kalkulierte Antwort parat gelegt hat. Francos Schicksal ist von einem stumpfen Taschenmesser abhängig. Es ist weniger die Tatsache an sich, sondern der Akt als solcher, wie er inszeniert ist, der für die Zuschauer zur Herausforderung wird.
Wir wissen nicht genau, woher Gallos Figur kommt, was er getan hat, was für ein Mensch er ist. Skolimowksi verzichtet gänzlich auf Psychologisierungen. Sein Film handelt von einem reinen Überlebenskampf eines stummen Helden. Kaum ein Wort wird im Film gesprochen, die Gesten stehen für sich alleine da, ein Bild von Zeit entfaltet sich. Boyle hingegen lässt uns wissen, was für einen Menschen Franco hier verkörpert: einen Einzelgänger auf der Flucht vor etwas anderem, auf der Flucht vor der Stadt, vor der Welt und vor seiner Familie. Er will von alldem nichts hören, ignoriert die Nachricht seiner Mutter auf seinem Anrufbeantworter. Niemand weiß wo er ist, konsequenter Weise kann er von niemandem gesucht und gefunden werden. In diesem 5-Tage-Delirium zwischen Aushungern und Eigenurintrinken, in dem Boyle seine nervig überhetzte Videoclipinszenierung immer noch nicht zur Ruhe kommen lassen kann, bereut der Protagonist seinen Lebensentwurf zusehends.
Nachdem Gallo einer Reihe nahezu nicht in Worte fassender Erlebnisse entkommt, gelangt er letztendlich an eine einsame Hütte. Eine Frau nimmt ihn kurz auf und versucht seine Verletzungen zu behandeln. Sie setzt ihn auf ein Pferd auf dem er langsam durch den Schnee stapft, nur um letzten Endes seinen Wunden zu erliegen – die wohl verdiente Erlösung, mehr Hingabe als Aufgeben. Francos Überlebenswille hingegen steigt proportional mit der Zeit und einleuchtenden Einsamkeit und Leere seines Lebens. In mühsamer Kleinstarbeit bricht er sich Elle und Speiche seines abgehungerten Arms und durchtrennt Sehne um Sehne mit seinem stumpfen Taschenmesser. Während Skolimowksi eine Geschichte vom sicheren Tod erzählt, propagiert Boyle den Überlebenswillen wider den guten Verstand. Was in seinem Vorgängerfilm »Slumdog Millionaire« der gesamtgesellschaftliche, universal-fiktive Kampf gegen die Krise war, wird in diesem gescheiterten Kammerspiel der Kampf gegen die individuelle Psyche. Aron Ralston, auf dem die wahre Geschichte des Films beruht, hat seinen Arm verloren, aber scheinbar, so will uns der Film zumindest weismachen, den Sinn seines Lebens gefunden. Heute ist er verheiratet, hat einen Sohn und ist ein amerikanischer Held.
Gallos Figur hingegen rottet immer noch alleine und unentdeckt vor sich im Schnee hin.
Christian Krisper
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